Lebensgeschichte als Lehrmaterial

Im Gespräch vor den Lehramtsanwärtern: Holocaust-Überlebende Tamar Dreifuss, Moderator Christoph Lemmer sowie seine Tochter Mila Sgodda.Foto Trautmann

Im Gespräch vor den Lehramtsanwärtern: Holocaust-Überlebende Tamar Dreifuss, Moderator Christoph Lemmer sowie seine Tochter Mila Sgodda.Foto Trautmann

Achtjährige interviewt Holocaust-Überlebende Tamar Dreifuss für einen Podcast

Von Paula L. TRautmann

Bad Aibling – Die mahnende Erinnerung am Leben halten. Dieser Aufgabe hat sich Tamar Dreifuss verschrieben. Die 83-Jährige schilderte im Aiblinger Rathaus jetzt der achtjährigen Mila Sgodda im Rahmen einer besonderen Fragerunde, wie sie als Kind den Holocaust überlebt hat und mahnte, dass sich die Verfolgung und Diskriminierung der Juden nicht wiederholen dürften.

Das Besondere bei diesem Schüler-Interview: Mila ist beinahe im selben Alter wie Dreifuss am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damit auch andere Schüler aus der Geschichte der Holocaust-Überlebenden lernen können, entsteht aktuell ein Podcast inklusive 360-Grad-Video als Lehrmaterial.

Für eineinhalb Jahre
von Eltern getrennt

Im großen Saal des Aiblinger Rathauses sitzen rund 30 angehende Lehrer, deren Seminarleiter sowie Kamera- und Tontechniker. Mila sieht sich immer wieder um, zwirbelt ihre Haare, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Die Achtjährige ist nervös, es ist ein großer Tag. Vor ihr sitzt Tamar Dreifuss. Über das Leben der 83-Jährigen hat Mila schon einiges aus deren Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“ erfahren. Mehrmals hat sie es gelesen. „Man hat das ganz gut verstanden“, sagt sie.

Ihr Vater Christoph Lemmer sitzt an ihrer Seite, unterstützt sie, bringt das Gespräch ins Rollen. Wie Dreifuss den Krieg erlebt hat? „Das war ganz schlimm. Ich durfte als Dreijährige meinen Namen nicht mehr nennen“, sagt die 83-Jährige. Um ihre jüdischen Wurzeln zu verbergen, wurde aus Tamar Theresa.

Auch in ihrer Heimatstadt Wilna in Litauen konnte sie nicht bleiben. Als Hitler Polen überfiel, musste die Familie die Stadt verlassen. In Ponar wurden ihnen zwei Zimmer zugewiesen. Als dort einige Zeit später deutsche Soldaten ankamen, wurde es auch dort zu gefährlich. Ihre Eltern brachten sie bei ihrer Tante unter – um ihre Tochter zu beschützen. Sie selbst kamen ins Ghetto. Eineinhalb Jahre waren sie getrennt. „Ich habe jeden Tag geweint“, erinnert sich Dreifuss.

Als die Tante ein Zimmer an einen Nazi vermieten musste, habe sie nicht gewusst, was das sei – ein Nazi. Deshalb sei ihr die Gefahr auch nicht bewusst gewesen, als sie ihm erzählte, dass ihr Vater eigentlich Jascha Schapiro heiße, sich jetzt aber Josef Schrawinski nenne. Dem Mann sei sofort klar gewesen, dass er ein jüdisches Kind vor sich hatte. Er warnte die Tante, dass Dreifuss verschwinden müsse. So kam sie dann doch zurück zu ihren Eltern – ins Ghetto nach Wilna.

Wie das war? „Das kann man nicht beschreiben. Manche bettelten, manche lagen auf der Straße, manche waren tot“, erinnert sich die 83-Jährige. Zu Essen habe es nie genug gegeben. Doch die Juden im Ghetto hätten Theater, Orchester, Ausstellungen organisiert und trotz allem versucht, zu leben. „Das Leben ging ja irgendwie weiter. Es konnte aber jeden Tag vorbei sein“, sagt Dreifuss. Als ihr Vater von den Nazis abgeführt wurde, habe er gesagt, dass sie sich wiedersehen würden. „Er war Optimist“, sagt die 83-Jährige. Sie habe gewusst, dass dies ein endgültiger Abschied gewesen sei.

Wenig später wurden die Frauen und Kinder deportiert, ins Durchgangslager Tauroggen – auch Tamar und ihre Mutter. „Hitler hat mir meine Jugend genommen“, sagt Dreifuss. Gemeinsam mit ihrer Mutter habe sie fliehen können – nach mehreren Versuchen, die mit Peitschenhieben bestraft wurde. Ihre Mutter sei eine „mutige Frau“ gewesen, habe nicht aufgegeben. „Die Hand meiner Mama war das Wichtigste für mich, die durfte ich nie loslassen.“ Nach der Flucht mussten sie sich verstecken. Sogar in einer Hundehütte hätten sie für zwei Tage gehaust. Der Hund habe sein Essen und seinen Napf mit ihnen geteilt, sie beschützt, indem er die Soldaten angebellt habe. Schließlich seien sie wieder bei ihrer Tante untergekommen.

Ein neues Kapitel begann für Familie 1944, als die Rote Armee Wilna befreit hatte. Nach Kriegsende kehrte Dreifuss‘ Mutter Litauen den Rücken. Sie heiratete erneut und ging mit Tamar nach Israel.

In allen Deutschen
Nazis gesehen

„Wegen der Liebe“ kam Tamar Dreifuss nach Deutschland. Ihr Mann wollte Fotografie in Köln studieren. Er habe die Shoa nicht mitbekommen. „Ich habe damals in allen Deutschen Nazis gesehen, wollte maximal zwei Jahre bleiben“, erzählt die 83-Jährige. Dann kam es aber anders. Sie nahm eine Arbeit an und lernte Deutsch. Viele Jahre später lebt sie nun in Bad Aibling, näher bei ihren Kindern.

Ihr Wohnort mag ein anderer sein, ihre Meinung hat sich aber nicht geändert. „Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland“, sagt Dreifuss. Auch Fremdenhass und Rassismus hätten hier nichts zu suchen. Dagegen müsse die Gesellschaft kämpfen, und für Demokratie. „Ich glaube an die Jugend, deshalb bin ich hier. Ihr seid nicht schuld, aber ihr seid schuld, wenn es noch mal passiert“, mahnt die 83-Jährige.

„Die Geschichte am Leben erhalten“

Der Podcast mit Tamar Dreifuss kommt künftig im Unterricht zum Einsatz. Seminarrektorin Johanna Nitschke bildet angehende Lehrer aus und wollte das Thema „Zeitzeugen des Nationalsozialismus“ anschaulich gestalten. Deshalb entwickelte sie die Idee für einen Podcast. Jeder Lehrer kann diesen im Klassenzimmer abspielen und den Kindern so Geschichte nahe bringen. Durch solche Projekte entstehe eine Gruppendynamik in der Klasse, so Nitschke. Das Projekt soll einem politischen Rechtsruck entgegenwirken und die Demokratieerziehung unterstützen.

Florian Kubiak, Berater für digitale Bildung in Oberbayern, setzt das Projekt technisch um. Er zeigt den Referendaren wie sie Medien im Unterricht am besten nutzen. Dass eine Achtjährige die Holocaust-Überlebende interviewt, findet er besonders spannend. „Ein Kind hat eine ganz andere Sichtweise auf das Thema“, sagt Kubiak. Es sei auch ein „krasser Gegensatz“ zwischen dem, was das Mädchen erlebt habe und was Dreifuss erzähle. Der geschichtliche Aspekt sei „ganz wichtig“: Das Team wolle die Berichte von Zeitzeugen festhalten, da dies irgendwann nicht mehr möglich sein werde. „Wir wollen die Geschichte am Leben erhalten“, sagt Kubiak. Der Podcast mit 360-Grad-Video soll öffentlich zugänglich gemacht werden und nicht nur in den Klassen der Lehramtsanwärter gezeigt werden.plt

Donnerstag, 28. März 2024
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